Der Ohrring

Der in Holland geborene Breitner war der wichtigste Chronist des Amsterdamer Straßenlebens im späten 19. Jahrhundert. Er stellte die blühende Metropole in Gemälden und Zeichnungen dar, favorisierte einen realistischen Stil und erkundete sogar die Fotografie, um zu dokumentieren, was er sah. Aber 1893-4, nachdem er sich von einer Zeit der Augeninfektion erholt hatte, schuf er eine Reihe von relativ gedämpften Gemälden, die eine andere Seite seiner Persönlichkeit offenbarten - Darstellungen von Mädchen und jungen Frauen in japanischen Kimonos. Die meisten Personen sind auf einem Sofa sitzend oder liegend dargestellt. Hier jedoch steht die Frau - eine schlanke, längliche, elegante Figur - vor einem Spiegel und legt ihren Ohrring an. Auf der linken Seite befindet sich ein orientalischer Paravent.

Inspiriert wurde die Serie von den japanischen Grafiken, die damals im Trend lagen; Breitner selbst hatte eine Reihe davon in seiner Sammlung, ebenso wie die Kimonos der Modelle. Die junge Frau, die für dieses Gemälde Modell stand, Geesje Kwak (1877-1899), ist auch in anderen Werken dieser Serie von Breitner zu sehen. Das Rotterdamer Museum Boijmans Van Beuningen, in dem dieses Werk ausgestellt ist, verfügt über neun Gemälde und 22 Zeichnungen aus seiner Hand. Darunter ist eine Skizze mit schwarzer Kreide, die er als Studie für dieses Gemälde angefertigt hat. Obwohl es heute als Der Ohrring bekannt ist, nannte Breitner es selbst Vor dem Spiegel.