Viele Künstler sind ganz klar geborene Künstler. Ein paar wenige andere gehen durch viele Lebenswendungen, womöglich unvermittelterweise, bevor sie entscheiden, dass Kunst der Ausweg ist. Gertrude Stanton wurde 1852 geboren, in Des Moines, USA. Als Kind versuchte sie immer, Bilder mit Wasser zu malen. Ihre Mutter wollte, dass sie Klavier spielte, ohne viel Erfolg. Vor ihrem 20. Geburtstag starb ihr Vater. Ihre Mutter eröffnete dann eine Pension, um die Rechnungen bezahlen zu können. Hier traf und heiratete Gertrude auch Eduard Käsebier.
Später gab sie zu, dass es eine impulsive Heirat gewesen war, in die sie sich hineingestürzt hatte nach einer anderen, enttäuschenden Romanze. Sie sagte: „Wenn mein Mann in den Himmel gekommen ist, möchte ich in die Hölle. Er war schrecklich... Nichts war ihm jemals gut genug.“ Sie trennten sich früh, ließen sich aber nicht scheiden. Dennoch unterstütze er sie, das College zu besuchen, wo sie zuerst Zeichnen und Malen studierte, dann aber sehr bald zu Fotografie wechselte. 1915 schaffte sie eine Abbildung ihrer Ehe. Das Foto, betitelt Unterjocht und mundtot gemacht – Ehe, sieht harmlos aus, bis man die Hintergründe kennt und den Titel interpretieren kann. Gertrude reiste nach Europa, um ihrem Lehrberuf weiter nachzugehen, kam jedoch 1895 zurück. Schließlich ernsthaft beginnend zu arbeiten, stellte sie im nächsten Jahr 150 Fotos aus, eine enorme Menge. Von da an studierte sie weiter und suchte beständig nach neuen Themen; zum Beispiel porträtierte sie viele der Sioux Indianer. 1902 entschied sie, dass es Zeit wäre für eine neue Richtung, und so gründete sie die Foto-Secessions-Bewegung zusammen mit Fotografenkamerad Alfred Stieglitz. Das heutige Foto zeigt Florence Evelyn Nesbit (1884-1967).
Es trägt den Titel ‚Fräulein N.‘ und wurde 1903 geschossen. Evelyn war Revuetänzerin und eine gut bekannte Schauspielerin. Diese Arbeit hat für mich einige Mehrdeutigkeiten. Alles wirkt sehr gestellt. Die Tiefe des Bildes lässt ihr Gesicht und ihren Oberkörper scharf erscheinen und beinah losgelöst vom verschwommenen Hintergrund. Ihr oberes Haar ist sorgfältig zerzaust, dennoch sehen die Locken auf ihren Schultern ordentlich gerichtet aus. Ist sie dabei, sexuell zu erwachen, oder sehnt sie sich danach, weit weg zu sein? Das Kännchen in ihrer Hand trägt das Bild einer Frau in einem traditionellen Kleid. Die Frau trägt ein Blumensträußchen; das englische Wort dafür ist posy, was ebenfalls ein kurzes Motto beschreibt, das in einen Ring eingraviert ist. Womöglich ist eine Inschrift auf einem der vielen Ringe, die sie trägt.
Käsebier half dabei, 1910 den Professionellen Fotografenverbund der Frauen von Amerika zu etablieren, wo sie bis 1929 sehr aktiv war und dabei viel Zuspruch erhielt. Dann gab sie die Fotografie auf und verkaufte ihr Studio, mit allem Drum und Dran. Gertrude Käsebier (18. Mai 1852 - 12. Oktober 1934) war eine geborene Künstlerin, aber nahm ein paar Umwege, um ihren Meisterbereich zu erforschen und zu erweitern.
- Erik